Freitag, 18. Juli 2014
Erinnere dich
Fanny Jimenez Die Welt, 18.7.14 Axel Springer SE 2014. Alle Rechte vorbehalten


Die Erinnerung beginnt erst im dritten Lebensjahr
Wer glaubt, sich an Kindheitserlebnisse vor dem dritten Geburtstag erinnern zu können, irrt. Denn das autobiografische Gedächtnis funktioniert erst, wenn drei Voraussetzungen erfüllt sind.
Mit Kindheitserinnerungen ist das so eine Sache. Man kann sich nie wirklich sicher sein, dass das, woran man sich da zu erinnern glaubt, wirklich stattgefunden hat – und ob es wirklich eine eigene Erinnerung ist.
Meine erste Erinnerung zum Beispiel ist die, dass mir ein Luftballon davonfliegt, ein mit Helium gefüllter. Ich kann mich erinnern, wie sich die Schnur von meiner Hand löst und ich ihm entsetzt hinterher sehe, dem rosa Ballon mit Hasenohren.
Kürzlich aber habe ich mich gefragt, woher ich das eigentlich weiß. Dabei kam heraus: Niemand sonst in meiner Familie kann sich daran erinnern, aber es gibt ein Foto von mir und einem Hasenballon. Darauf bin ich drei und halte ihn fest.
Ohne Ich-Verständnis keine Kindheitserinnerung
Gedächtnisforscher gehen davon aus, dass es vor dem dritten Lebensjahr keine autobiografischen Erinnerungen geben kann. Denn erst müssen drei Voraussetzungen erfüllt sein: Das Netzwerk von Nervenzellen im Gehirn muss so ausgebildet sein, dass Geschehenes in vielen Arealen gleichzeitig verarbeitet werden kann.

Gedächtnis
Die Festplatte für das Gehirn
Außerdem muss die Fähigkeit zu sprechen und sprachlich zu denken vorhanden sein, und ein Minimum an Selbstbewusstsein: Denn ohne zu wissen, wer man ist, kann man Erinnerungen nicht als zu sich zugehörig speichern. Das alles ist erst um das dritte Lebensjahr herum soweit entwickelt, dass das autobiografische Gedächtnis seinen Dienst aufnehmen kann.
Erinnerungen verändern sich bei jedem Abruf
Aber auch wenn meine vermeintlich früheste Erinnerung dieses Kriterium erfüllt, besonders klar und deutlich erscheint sie mir nun gerade nicht. Und deshalb bin ich mir auch nicht besonders sicher, ob es überhaupt eine ist. Manchmal nämlich hat das Gehirn Schwierigkeiten, Erzählungen anderer, zum Beispiel die der Eltern und Geschwister, von echten Erinnerungen zu trennen.
Manchmal verwechselt es auch Gedanken über die eigene Kindheit, Überlegungen, wie Dinge hätten sein können oder hätten sein sollen, mit echten Erinnerungen.
Und außerdem verändert sich jede Erinnerung, jedes Mal, wenn sie abgerufen wird, ein kleines bisschen. Sie wird aktualisiert, sozusagen. Vielleicht also gab es meine erste Erinnerung nie. Vielleicht hat mein Gehirn das Foto mit dem Hasenballon einfach nur etwas zu ernst genommen.

Anmerkungen:
Diese „Fehlfunktion“ kann gut genutzt werden: “ Es ist nie zu spät sich an eine glückliche Kindheit zu erinnern…
Hat die Autorin dieses Artikels schon mal mit selbstbewussten zweijährigen Kindern zu tun gehabt???
Außerdem gilt dieses “als wahr genommene falsch“ Abspeichern ja nicht nur für frühe Erinnerungen.