Stuss im Stuhlkreis
Dillingen ist jedem Pädagogen in Bayern ein Begriff. Und Lehrerin Catrin Kurtz ein Graus. Wenn sie dort bunte Kärtchen beschriften und Verben tanzen soll, fragt sie sich: Bin ich auf Fortbildung - oder im falschen Film?
"Sie waren dieses Jahr schon zwei Wochen krank!" Vorwurfsvolle Blicke eines Fünftklässlers. Erst will ich entrüstet widersprechen, schließlich werde ich - wie sich das für pflichtbewusste Arbeitnehmer gehört - grundsätzlich in den Ferien krank. Doch dann dämmert es mir: Der Schüler meint die Zeit, in der ich meiner vorgeschriebenen Fortbildungspflicht nachgekommen bin. Und ja, irgendwie sind zwei Wochen Dillingen (nicht am Stück, Gott bewahre) mit einer fiesen Grippe vergleichbar.
Das schwäbische Dillingen ist wohl jedem Pädagogen in Bayern ein Begriff. Und mir ein Graus. Man sperre etwa 300 Lehrer und diverse Dozenten in ein ehemaliges Kloster und zwinge erstere, sich unter Anleitung letzterer mit den neuesten pädagogischen und didaktischen Methoden auseinanderzusetzen. Das Ganze nennt sich dann Lehrerfortbildung. Ein typischer Krankheitsverlauf.
Ansteckung
Am Fortbildungsort angekommen, beziehe ich mein Zimmer. Das heißt, ich stelle meinen Koffer in eine Sechs-Quadratmeter-Kammer (gefühlte Größe), einziger Komfort ist das Bad im Raum. Dann geht es auch schon los, man hat sich im Gruppenarbeitsraum einzufinden, Thema: die neuesten kreativen Methoden für einen abwechslungsreichen Deutschunterricht. Oder so. Ich betrete den Raum und was erblicke ich zuerst? Einen Stuhlkreis und eine gestaltete Mitte. Mein Fluchtinstinkt setzt ein. Die Fortbildung hat sich eigentlich schon disqualifiziert, bevor sie überhaupt richtig begonnen hat.
Erste Symptome
Alles hier läuft nach dem Motto: Was du nicht willst, das man dir tut, das füg' auch keinem Schüler zu. Wir Lehrer sollen sämtliche pädagogischen Kniffe mit- und an einander ausprobieren. Den Anfang macht ein Kennenlernspiel. Es werden bunte Kärtchen verteilt, auf die jeder seinen Vornamen, drei Eigenschaften sowie sein Lieblingstier schreiben soll. Dann wird gemischt, jeder muss eine Karte ziehen und versuchen, den Besitzer derselben zu ermitteln. Lustig, oder?
So geht es munter weiter, der Theorieanteil hält sich in Grenzen. Als die fünfte bunte Karte verteilt wird, flüstert meine Nachbarin: "Wenn ich noch eine bunte Karte beschriften soll, kotze ich!" Eine Seelenverwandte, immerhin etwas.
Irre Lehrersprüche "Mein Name ist Steinhardt und so bin ich auch"
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Ausbruch
Mit jedem weiteren Spiel werde ich destruktiver, falle in alte Schülergewohnheiten zurück. Ich schreibe Briefchen mit meiner sympathischen Banknachbarin und male die Karos auf meinem Block aus, für jede verstrichene Minute eines. Als wir dann zu zweit zu verschiedenen Verben durch den Raum tanzen sollen, muss ich dringend und länger auf die Toilette.
Mag ja ganz lustig und für bestimmte Zwecke auch sinnvoll sein, diese Übung. Ich mache sie zum Beispiel mit Fünftklässlern, um ihnen das Wortfeld zu "gehen" zu verbildlichen. Aber ich bin nicht Lehrerin geworden, um mich zum Affen zu machen!
Abklingen
Bevor es zurück nach Hause geht, ist eine letzte Nervenprobe zu bestehen: die Feedbackrunde. Jeder lobt die tolle Methodik. Bin ich im falschen Film? Ich wage mich vor und sage, dass ich mir mehr Input zu den wirklich neuen Forschungsergebnissen der Deutschdidaktik gewünscht hätte. Kopfschütteln bei den Kollegen. Meine Gedanken schweifen zu Jannis aus der 10b, ewiger Rebell, der mit seinen Klassenbucheinträgen mittlerweile ein ganzes Regal füllen könnte. Ich fühle mich ihm so nah wie noch nie.
Vollständige Genesung
Montagmorgen, kurz vor acht, ich betrete das Klassenzimmer der 10b. Mein Blick fällt auf eine Anarchie aus Tischen und Stühlen, von der üblichen Ordnung keine Spur. Ich begegne Jannis' herausforderndem Grinsen - und grinse zurück.
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Quelle: SZ.de/jobr/mkoh/leja